Wenn aus Krisen Krieg wird

Am 31. März 2022 durfte die Außen- und Sicherheitspolitische Hochschulgruppe Heidelberg zu einer Präsenzveranstaltung mit Dr. Philipp-Christian Wachs, promovierter Historiker, ehemaliger Leiter des Haus Rissen in Hamburg und Strategy Advisor bei der Beratungsfirma Wachs, Hesselbarth & Co, als Referenten einladen. Nach Dr. Wachs‘ Vortrag, in dem er über die aktuelle Lage in der Ukraine und die daraus resultierenden militärischen und geopolitischen Spannungen in den baltischen Staaten referierte, stellte er sich den Fragen und Diskussionsbeiträgen der zehn Teilnehmer:innen.

‚Wieder Krieg‘ – mit dieser Schlagzeile der FAZ am Sonntag1 eröffnete Dr. Wachs die Veranstaltung. In einem kurzen Blitzlicht äußerten sich zunächst alle Teilnehmenden zu ihrer Einschätzung der Lage in der Ukraine, wobei eine tiefe Betroffenheit über die Dramatik und Brutalität des Krieges deutlich wurde.

 

‚Russland hatte erwartet, in einer Woche den Zugang zum Schwarzen Meer erlangen und bis dahin eine ukrainische Marionettenregierung aufstellen zu können‘, führte der Referent aus. Doch dieser russische Plan hat sich zur Überraschung aller nicht erfüllt – tatsächlich habe sogar ‚die NATO gedacht, dass die Ukrainer keine Chance haben‘. Die aktuelle Entwicklung in der Ukraine erkläre sich durch viele Fehleinschätzungen und strategische Fehler, die Wachs kurz umriss: Die russische Militärspitze hätte nicht ausreichend mit ihren Offizieren kommuniziert, die Ausrüstung und die eingesetzten Kriegsmethoden seien veraltet. Gleichzeitig hätten die Ukrainer mit ihrem Militär, vor allem aber mit ihrer Dominanz im Informationskrieg und der Kompetenz ihres Präsidenten eine unerwartet große Stärke bewiesen. Putin ‚wollte sich in die Geschichtsbücher schreiben lassen‘ – ein Plan, der ihm nun zum Verhängnis wird? 

 

‚Das Baltikum verbindet alles, was Russland und die EU in Streit bringen kann‘, leitete Dr. Wachs den Hauptteil seines Vortrags ein. Das Baltikum zeige mehrere spezifische geopolitische Besonderheiten und befände sich in einem ‚Areal von Interessenkonflikten und teils historisch aufgeladenen Wahrnehmungsdifferenzen‘, die seine besondere und umstrittene Signifikanz in Osteuropa erklären würden. Laut Dr. Wachs habe in dem letzten 25 Jahren eine ‚Westernisierung und strategische Neuformatierung der Region durch die EU- und NATO-Erweiterungen‘ stattgefunden. Und dennoch, trotz der Mitgliedschaft in NATO und EU, bliebe das Baltikum geopolitisch weiterhin exponiert. 

 

Um diese geostrategische Besonderheit zu erklären erlaubte sich der promovierte Historiker einen kurzen historischen Rückblick: Kaum ein anderer geographischer Raum sei so häufig Kulminationspunkt von Konflikten zwischen Nationen gewesen. Neben noch immer spürbaren Folgen des Hitler-Stalin-Pakts und der Annexion Litauens durch die sowjetische Armee im Jahr 1940 seien auch frühere sowjetische Strategien nach wie vor erkennbar: Die Unterdrückung der kulturellen, religiösen und politischen Eliten und das Instaurieren einer moskautreuen Regierung seien strategische Schritte, die auch in der aktuellen Situation in der Ukraine erwägt werden würden.

 

Andererseits bestehe jedoch ein sehr enges kulturelles und historisches Verhältnis zwischen Russland und dem Baltikum – dies sei insbesondere an der hohen Präsenz gut integrierter russischer Minderheiten in den drei baltischen Staaten zu sehen. Diese Präsenz brächte aber auch eine innenpolitische Unsicherheit mit sich, obwohl die ‚polnischen, eher schwach gebildeten Minderheiten‘ die größere Gefahr darstellten, da sie anfälliger für russische Propaganda wären. Diese Unsicherheit zeige sich ebenfalls in der ‚offenen Flanke‘ des Baltikums: Die Region des östlichen Ostseeraumes als direkte Schnittstelle des Westens mit Russland sei gleichermaßen ‚ein Kooperationsraum und eine Konfrontationszone‘. 

 

Eine weitere Verwundbarkeit der baltischen Länder läge in ihrer Energieabhängigkeit von Russland. ‚2012 waren Litauen, Estland und Lettland noch zu 100 % abhängig vom russischen Gas‘, so Dr. Wachs, heute seien sie ‚gasversorgungsunabhängig‘. Die intensive Bemühung der letzten Jahre um Unabhängigkeit in der Energieversorgung demonstriert die unterschiedliche Wahrnehmung russischer Macht und Einflussnahme durch das Baltikum auf der einen und die mittel- und westeuropäischen Länder auf der anderen Seite. So spiele die hohe Bedrohungswahrnehmung in den baltischen Staaten eine große Rolle: ‚Politik generell und Außenpolitik speziell ist in den baltischen Staaten stark versicherheitlicht‘, so Dr. Wachs. 

 

So hätten baltische Strategen mit Blick auf Russland auch Worst-Case-Szenarien und den Einsatz von Hard Power nie ausgeschlossen. Diese Befürchtungen bezögen sich insbesondere auf die Modernisierung der russischen Streitkräfte sowie auf der ‚Konzentration konventioneller Kräfte im westlichen Militärbezirk (um Kaliningrad)‘, aber auch auf Russlands Nuklearstrategie und seine zahlreichen und häufigen Militärübungen. Diese würden schon seit Jahren auf ein ,substanzielles militärisches Kräfteungleichgewicht‘ sowie auf den ‚schwachen militärischen Fußabdrucks der NATO in der Region‘ hinweisen. 

 

Durch die Ereignisse in der Ukraine seit 2014 und insbesondere seit Februar diesen Jahres sehen sich die baltischen Nationen in ihrer Risikoeinschätzung bestätigt. Sie fordern daher keine ‚zweitklassige Mitgliedschaft‘ in der NATO, sondern eine ‚wirksame Rückversicherung und Abschreckung.‘ 

 

Um seine These der besonderen geopolitischen Stellung des Baltikums zu illustrieren, ging der Referent noch detailliert auf das Beispiel Litauen ein. Dabei griff er auf seine Erfahrungen bei der Betreuung der meisten der bisherigen zwölf Rotationen der NATO-Mission „enhanced Forward Presence“ (eFP) zurück. 

 

Zahlreiche Fragen und Kommentaren folgten nach dem Vortrag, die zu einer angeregten Diskussion führten. Der Unterschied zwischen „Ausrüsten“ und „Aufrüsten“ wurde hier durch Dr. Wachs stark betont. ‚Einsatzbereitschaft ist das Ziel‘, durch das neue Sondervermögen der Bundeswehr würden also zuerst einmal ‚Lücken aufgefüllt‘. ,Es geht um Winterstiefel‘, brachte der Referent es auf den Punkt. Außerdem müsse man ‚Fähigkeitsdefizite schließen‘ und die Beschaffungsprozesse vereinfachen. Weitere Fragen der motivierten Teilnehmerschaft bezogen sich auf die Idee einer europäischen Armee zur (symbolischen) Hilfe für die Ukraine sowie auf Strategien und Folgen von Informationskriegen. Zum Ende der Veranstaltung bedankte sich der Referent für die ‚interessante und angeregte Fragerunde‘ und äußerte sich sehr positiv über das Engagement und die aktive Teilnahme. Positive Rückmeldungen kamen auch vonseiten der Teilnehmer:innen und wir danken Dr. Wachs für den gleichsam informativen wie kurzweiligen Vortrag und die Diskussionsrunde. 

 

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1 Frankfurter Allgemeine Zeitung Sonntagszeitung vom 26.02.2022