Oben genannte Veranstaltung mit dem Referenten Prof. Dr. Michael Wala, Seniorprofessor für Amerikanische Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum und Geheimdiensthistoriker, fand am 27.2.24 im Campus Bergheim der Universität Heidelberg zwischen 18:00 Uhr und 21:00 Uhr statt. Wir als Heidelberger HSG kooperierten mit der HSG Erfurt, die kurzfristig Frau Prof. Dr. Hoffmann für ein anschließendes Zwiegespräch nach dem Vortrag mit Prof. Wala gewinnen konnten. Dafür bedanke ich, Niklas Kreft, mich ebenso wie bei unserer stellvertretenden Vorsitzenden Maxine Wildenstein, ohne die die gesamte Veranstaltung technisch verunmöglicht worden wäre!
Mit dieser Veranstaltung wagten wir uns als HSG auf bisher unbekanntes Terrain: Nicht nur war es für den aktuellen Vorstand das erste Mal, dass ein Referent dieses Kalibers für eine eher experimentelle Veranstaltung gewonnen werden konnte. Ebenso der Fokus auf eine sicherheitsrelevante, jedoch überwiegend historische Thematik brachte für alle Teilnehmenden einen ungewohnten Blick auf die Arbeitsweise des bundesdeutschen Inlandsgeheimdienstes während der Zeit des Kalten Krieges. Insbesondere der Bereich Spionageabwehr, den Prof. Wala als erster Forschender im Rahmen seiner Feldforschung mittels Akteneinsicht im Geheimarchiv genauer unter die Lupe nahm, barg dabei absolutes Neuland. Spannend, aber nie die fachliche Fundiertheit missen lassend, schilderte der Referent die Muster und Vorgehensweisen, mittels derer der Bundesverfassungsschutz den zahlreichen DDR-Spionen in der BRD beizukommen versuchte. Die zahlreichen Fragen an den Referenten aus dem Publikum können aufgrund der Begrenztheit dieses Berichts nur am Rande gestreift werden.
Wala berichtete zum Beispiel ausführlich über folgende Konstellation: Worauf die Beamten des BfV an Verkehrsknotenpunkten zwischen den beiden deutschen Staaten hätten achten müssen, waren eine Kombination aus abgenutzten Schuhen sowie ein Sammelsurium an offenbar selten getragenen Überklamotten, die aus der Kleiderkammer eines Theaters zu stammen schienen. Zum Beispiel hätte das Tragen eines makellosen Mantels impliziert, durch wie neu aussehende Schuhe ergänzt, dass der Betreffende – in diesem spezifischen Kontext bewegten sich fast ausschließlich Männer – gerade seinen Aktivierungsbefehl erhalten hätte, seinen – vermutlich schon lange zuvor erhaltenen – Kurierauftrag mit Anweisungen an Residenten in der BRD wahrzunehmen. Zumeist hätten die Observationsteams den Grenzgänger unter engmaschiger Überwachung ziehen lassen, da sie davon ausgegangen seien, ein Aufgreifen erst nach erfolgter Informationsweitergabe an den Residenten in der BRD würde Anhaltspunkte darüber liefern, auf welche Art von Informationen es die DDR-Auslandsspionage abgesehen hatte. Dies hätte wiederum als Grundlage dafür gedient, mittels glaubwürdigen, jedoch „entbehrlichen“ Informationen sekundären Schadenspotenzials für die BRD mögliche Hauptziele der DDR-Auslandsspionage in der BRD zu identifizieren und folglich deren Resilienz gegenüber Infiltrationen des östlichen Nachbarlandes zu verstärken. Es sei also darum gegangen, proaktiv und vorrausschauend sicherheitsrelevante Bereiche wie beispielsweise bestimmte Wirtschaftssektoren oder – am offensichtlichen – die Sicherheitsarchitektur der NATO auf Bundesgebiet – als Frontstaat im Kalten Krieg naturgemäß äußerst vulnerabel – vor äußeren Eingriffen abzuschirmen.
Insgesamt, so resümierte der Historiker, ließen sich die übergreifenden Ziele unter den Schlagworten „Schleusung von Illegalen, die Nachvollziehung der Reisewege von Kurieren und Instrukteuren, Funkkontakte und die Anwerbung von Quellen – also das Umdrehen von Beteiligten der Gegenseite, seien es Kuriere, Residenten oder Informanten auf Bundesgebiet“ – subsumieren. Das BfV hätte eigens auf ein extra geschaffenes sogenannten „Strategiereferat“ zurückgegriffen, welches präzise und wiederverwendbare applikable „Werkzeuge – also Raster und Strategien zur Informationsbeschaffung“ – hervorbringen sollte, mit deren Abhilfe beispielsweise ergiebig nach Überläufern beziehungsweise Spionen mit Legende gefahndet werden konnte. Die Massenenttarnung von fast 500 Agenten als Ergebnis der subsequenten „Aktion Anmeldung“[1] bis Anfang der 80-er – erdacht in ebenjenem Strategiereferat – verifizieren den Erfolg dieser Herangehensweise. Klassische nachrichtendienstliche Anpassungen des Opponenten folgten alsbald. Denn obwohl nur sehr wenige Agenten infolgedessen verhaftet worden waren, hätte der östliche Nachbar umso mehr nichtenttarnte Spitzel aus Furcht vor deren Enttarnung abgezogen, was einen herben informationsrelevanten und monetären Rückschlag für die Auslandsspionage des ostdeutschen Staates evoziert hätte.
Hier kamen also, um Walas Worte genauer einzuordnen, klassische Taktiken der Spionageabwehr zum Einsatz. Indem nämlich eine gezielte strategische Ambivalenz der Unsicherheit für Ostagenten von bundesdeutscher Seite herbeigeführt wurde, erschwerte dies der Gegenseite die Einschätzung, über wie viele Spitzel auf BRD-Territorium die Spionageabwehr des BfV genau Bescheid wusste. Deswegen wurden vorsichthalber mehrere Hundert angeblich Unentdeckte angezogen und nach Osten zurückbeordert.[2]
Die „Historische Spionageabwehr in der BRD“ rief – wie bereits insinuiert – ein breites Interesse hervor. Unter den insgesamt 12 Teilnehmenden in Präsenz sowie in der Spitze 43 online, darunter diverse Teilnehmer aus HSGen bundesweit – insgesamt 55, inklusive der beiden Referierenden - erreichten die Moderation vor allem Fragen zur Effektivität der applizierten Strategien in der Spionageabwehr. Dem Diskussionsbetrieb tat die Komplexität der Thematik keinen Abbruch, denn die Veranstaltung erfreute sich einer regen Anteilnahme. Dem Referenten verblieb es, in der Folge vor allem zu betonen, dass durchaus einige Erfolge bei Aufspürung von Eingeschleusten mittels der Abstraktion von Legalisierungsmustern – gefälschte Identitäten von Ostagenten über diverse Herangehensweisen in der BRD legalisieren - verzeichnet werden konnten.
Dennoch schwankte die Erfolgskurve der absoluten Zahl an Netzwerkaushuben erheblich. Im Laufe der späten 60-er hatte diese sich auf ein ungeheuerliches Niveau gesteigert, welches Mitte der 70-er in der Demaskierung des Spions gipfelte, der im Mai 1974 zum Rücktritt des ersten SPD-Kanzlers Willy Brandt herbeiführte. Dieser Fall wäre nach Wala ebenso auf das lückenbehaftete Chiffriersystem der HVA zurückzuführen gewesen, welches sich zu lange auf deutsche Lyrikklassiker gestützt hätte. Nachdem das BfV Muster in besagtem Verschlüsselungssystem erkannt hatte, wären massenhafte Enttarnungen erfolgt, wie vorgenanntes prominentes Beispiel illustrativ bezeugt. Dabei ergab der Einzelfall eine die Lücke zwischen dem Ende der Verwendung der Systems 1959 und die Enttarnung Mitte 1973. Dies legt nahe, dass der Kanzlerspitzel die ganze Zeit auf dem Radar der bundesdeutschen Nachrichtendienste kursierte[3] – warum Bundesinnenminister Genscher, der bereits seit Mai 1973 die Identität von Guillaume kannte, sie erst Mitte 1974 dem Kanzleramt mitteilte, bleibt der Bewertung von Potentaten des historischen Fachs überlassen. Denn dies ist eine andere Geschichte.
Abschließende ergänzende Anmerkung: Falls der Vortrag für ein besseres Verständnis obiger Anmerkungen nachgesehen werden soll, um einen detaillierteren Eindruck von den Inhalten der Veranstaltung zu bekommen, sei auf nachfolgenden Link der Abteilung Stasiunterlagenarchiv im Bundesarchiv verwiesen, für die Prof. Wala am 23.3.23 einen – sehr ähnlichen - Vortrag abgehalten hat: youtu.be/K4qMzPq0RIY.
[1] Für eine genauere Erläuterung bitte ich um Konsultation des verlinkten Videos.
[2]Schimikowski, Florian: Rückblick:. Der Stasi-Mythos, in: Deutsches Spionagemuseum, 17.10.23, online: https://www.deutsches-spionagemuseum.de/2023/11/17/rueckblick-der-stasi-mythos-doch-nicht-so-gut-gewesen, abgerufen am: 11.8.24.
[3]Ebd.